Von der Himmelsthür zum Höllentor
Es ist alles noch viel schlimmer, als die meisten denken bzw. wahrhaben wollen. – Mein Blick in den Abgrund kirchlicher Verantwortungslosigkeit!
Himmelsthür, so heißt mein Heimatort. Mit 53 Jahren gehöre ich noch zu der Generation, die die Kirche im Vollrausch volkskirchlicher Feste und Verbundenheit erfahren durfte. Ich habe in dieser Zeit eine Fülle wunderbarer Erfahrungen und Erlebnisse innerhalb meiner Heimatgemeinde St. Martinus in Himmelsthür erlebt. Meine Seele hat Heimat, Verbundenheit, Trost, Hoffnung und vor allem Freude gefunden in den vielen Festen, Gottesdiensten, Ritualen und Veranstaltungen.

Darüber hinaus war für mich mein einjähriger Aufenthalt in der ökumenischen Bruderschaft von Taizé grundlegend für meine Entscheidung zum Priestertum und zur zölibatären Lebensform. Dass in dieser Entscheidung auch immer die Gefahr einer narzisstischen Selbstüberhöhung lag, war mir bereits als 20-Jährigem bewusst.
In dieser Zeit habe ich nicht nur viel gelernt über die historische Gestalt des Jesus von Nazareth. Nein, ich bin ihm nähergekommen. Er hat mich mit seinen Worten und seinen Taten berührt und er berührt mich mehr denn je. Mit diesem Jesus von Nazareth habe ich gelernt: “…die Wahrheit wird euch frei machen.” (Johannesevangelium 8, 32). Der Gott, an den ich glaube, ist ein Gott der Rettung und der Befreiung, ein Gott, der auf der Seite der Geschundenen und Unterdrückten steht. “What would Jesus do?”, diese Frage hat mich als Jugendlicher gepackt und nicht mehr losgelassen. Ich trage sehr viel Dankbarkeit in mir für diese Zeit.

Heute muss ich feststellen, wie sehr all diese positiven Erfahrungen schon immer umwoben und eingebettet waren von einer dunklen Parallelwelt, deren Existenz und Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können.
In den letzten Monaten gab es aus Spanien, und zuvor auch schon aus Frankreich, verstörende Meldungen bezüglich sexualisierter Gewalt innerhalb der römisch katholischen Kirche. In Frankreich spricht eine unabhängige Kommission aufgrund einer exemplarischen Erhebung von bis zu 330.000 Betroffenen/Opfern sexualisierter Gewalt. Auch in Spanien geht man von mehr als 300.000 Betroffenen aus.
Ich möchte aufgrund meiner Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass ein solch unvorstellbares Ausmaß und das damit zusammenhängende kollektive Versagen der Bischöfe bis in die heutige Zeit auch für die deutsche Kirche als durchaus realistisch erachtet werden kann. Die exemplarische Darstellung allein meines persönliches Umfelds, in dem ich mich bewege, soll das verdeutlichen:
- Der Bischof meiner Kindheit, Heinrich Maria Janssen, hat Kinder augenscheinlich missbraucht und auch vergewaltigt.1Es handelt sich hierbei nicht um eine Aussage im juristischen Sinne. Ich beziehe mich mit dieser Aussage vielmehr auf die Aussagen von Domkapitular Wilk und Weihbischof Bongartz gegenüber dem Betroffenen: „Ich glaube ihnen!“ Dies ist mehr als die Feststellung von Plausibilität. Insbesondere Domkapitular Wilk hat darauf hingewiesen, dass neben der überzeugenden Emotionalität des Betroffenen auch sein Täterwissen für seine Glaubwürdigkeit spricht. Es ist einer der Mängel des IPP-Berichtes „Wissen Teilen“, dass es keine Rücksprache bezüglich dieser Frage mit Domkapitular Wilk gegeben hat. Er hat sich mit Tätern umgeben und alles getan, damit nichts öffentlich wird. Eingegriffen hat er nur in solchen Fällen, in denen etwas öffentlich wurde. Aber auch dann galt seine Fürsorge ausschließlich den Tätern. Es gehört zu den verstörenden Fakten, dass Bischof Heinrich Maria Janssen Wohnungen bzw. Zimmer in mehreren Einrichtungen mit Kindern hatte (z. B. im Kinderheim Henneckenrode, in der Heimstätte Röderhof und im Bildungshaus St. Martin, Germershausen) 2 Aus dem IPP Bericht „Wissen Teilen“ (2021) wissen wir, Kinder wurden vom Bernwardshof zum Albertinum, dem Anbau des Bischofshauses, gebracht. Siehe Band I, Täternetzwerke?, S. 53 Es gibt bis heute keine umfassende Aufklärung und Aufarbeitung für diese Orte. Insbesondere zum Bernwardshof, dem Kinderheim in meinem Heimatort Himmelsthür, liegt bis heute keine eigene Untersuchung vor. Die Missbrauchsvorwürfe sind seit 2012 öffentlich bekannt. Der Leiter, Pastor Henke, ist dem Bistum und den Vinzentinerinnen als Missbrauchstäter noch länger bekannt. Die Untersuchung für dieses Heim wurde vielfach öffentlich angekündigt und ist selbst bis heute noch immer nicht beauftragt.
- Der Bischof meiner Jugend, der mich auch zum Priester geweiht hat, Josef Homeyer, hat das getan, was offensichtlich mehrheitlich alle Bischöfe zu dieser Zeit getan haben. So wie fast alle hat er Täter, wenn etwas öffentlich wurde, versetzt, geschützt und in der Regel nicht aus der Seelsorge genommen. Die Öffentlichkeit wurde angelogen oder über die Verbrechen nicht informiert. 3 Siehe IPP Gutachten Bistum Hildesheim Er hat in doppelter Hinsicht sehr schwere Schuld auf sich geladen. Er hat den Tätern durch den Wiedereinsatz zum einen signalisiert, dass sie in ihrer priesterlichen Existenz geschützt sind, und ihnen zum anderen durch den unkontrollierten Einsatz in der Seelsorge neue Übergriffsmöglichkeiten für weitere Verbrechen geschaffen.4 Vgl. Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Freiburg im Breisgau 2022, S. 143 bis 144.
- Bischof Norbert Trelles Zeit ist bis heute nicht offiziell aufgearbeitet. Er versprach Transparenz und proaktives Handeln, ohne wirklich umfassende Taten der Aufdeckung, Aufklärung und Aufarbeitung folgen zu lassen.5 Siehe auch „Wissen Teilen“ Band I, S. 54, dort heißt es in Bezug auf die Nachforschungen zu Bischof Janssen: „Die Lückenhaftigkeit der Erkenntnisgrundlage ist das Resultat des Umgangs mit diesen jungen Menschen. Diesen Umgang hat Bischof Janssen zu verantworten. Aber auch seine Nachfolger haben dazu beigetragen, denn sie haben sich nicht aktiv für eine dann eventuelle noch rechtzeitige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum eingesetzt. Alle drei Bischöfe (Janssen, Homeyer und Trelle. Anm. d. R.) haben es zu verantworten, dass es keine weiteren Zeugen – mehr – gibt, …“ Man hat einfach gewartet, wer sich meldet. Auch in Trelles Zeit haben Täter teilweise den Ort gewechselt und Gemeinden wurden mitunter nicht informiert. Durch die verantwortungslose Nichtaufdeckung, die fehlende proaktive Aufklärung und Aufarbeitung konnten Täter unerkannt bleiben und in den Gemeinden weiter Verbrechen verüben (Siehe Fall Georg Merettig in meiner Pfarrei St. Petrus). Er bagatellisierte sexualisierte Gewalt und führte die Kultur des Fassadenkatholizismus weiter. Das eingeleitete Aufarbeitungsprojekt des IPP Instituts wurde aufgrund von öffentlichem Druck und schließlich erst durch die konkrete Aufforderung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Röhrig in Auftrag gegeben.
- Bischof Heiner Wilmer hat mit seinem bemerkenswerten Versprechen „jeden Stein umdrehen zu wollen… und dafür zu sorgen, dass keine Akten mehr in Schubladen verschwinden“ eine ermutigende verbale Wende eingeleitet. Mehrere Betroffene fühlten sich dadurch ermutigt, sich nun zu melden. Es gab eine Reihe von guten und wichtigen Maßnahmen und zu Beginn viel Grund dafür, anzunehmen, eine „Neue Zeit“ sei angebrochen. Mittlerweile muss man ernüchtert festhalten: Von der Klarheit und dem Schwung des Anfangs sind wenig übrig geblieben. Während bereits der IPP Bericht „Wissen Teilen“ nahezu jede Pfarrei als Tatort identifiziert, sind noch nicht einmal die leitenden Pfarrer, geschweige denn die Gremien vor Ort, über die bisherige Verbrechensgeschichten ihrer Gemeinden informiert worden.6 IPP Bericht „WissenTeilen“ (2021), Band I, S.55: „Beeindruckend ist, dass quasi jeder Ort im gemeindlichen Zusammenhang als Tatort erinnert wird.“ Desweiteren wird proaktives Vorgehen nicht umfassend gefördert und mitunter nicht unterstützt. Ich habe selbst erfahren: Melder von Missbrauch werden teilweise ignoriert bzw. sogar beschuldigt oder mit der Androhung kirchenrechtlicher Maßnahmen eingeschüchtert. Der Fassadenkatholizismus und die Kultur der Doppelmoral werden mit neuer Raffinesse auf höherem Niveau weitergeführt. Es wird getrickst und geltendes Kirchenrecht bzw. die Rahmenrichtlinien der DBK missachtet.
- Bereits seit 1995 ist öffentlich, dass mein ehemaliger Schulseelsorger, Pfarrer Christian Straub (Pfarrer des Nachbarortes von Himmelsthür), ebenfalls ein Missbrauchstäter war. Die umfassende Aufklärung und Aufarbeitung auch in diesem Fall lässt bis heute auf sich warten. Fast dreißig Jahre später gab es jetzt im Januar auf Vorschlag der Betroffeneninitiative Hildesheim einen ersten Austausch vor Ort. In den vergangenen Jahren haben Betroffene selber recherchiert und mussten feststellen, dass die von Bischof Josef Homeyer versprochene Auflage des Nicht-Einsatzes in der Pastoral nicht eingehalten worden ist. Weihbischof Bongartz hat gegenüber Betroffenen selbst im Jahr 2016 noch eine Mitschuld des Bistums zurückgewiesen und die Verantwortung für die vielen Verbrechen ausschließlich beim Täter verortet. In den Akten des Bistums gibt es eindeutige Belege, dass Pfarrer Straub schon in seiner Kaplanszeit sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern bzw. Jugendlichen ausgeübt hat.
- Im Herbst 2020 wurde mir zugetragen, dass der verstorbene Ruhestandsgeistliche, Georg Merettig (ext. Link), eine pädosexuelle Veranlagung hatte. Und sich augenscheinlich bei einem Hoppe-Reiter-Spiel mit einem kleinen Jungen selbst befriedigt hatte. Daraufhin bestand ich auf Einblick in die Personalakte des Priesters, der in meinem Verantwortungsbereich tätig war. Hier fanden sich weitere Hinweise auf die pädosexuelle Veranlagung und auf mögliche Vorkommnisse in der Vergangenheit. Erst aufgrund des proaktiven Vorgehens der Pfarrei leitete das Bistum eine bischöflich beauftragte Untersuchung ein. Der Rosenbusch-Bericht konnte mehrere weitere Fälle in der Vergangenheit bestätigen. Hier zeigte das Bistum auf eindrückliche Weise, was möglich ist, wenn es proaktiv vorgehen würde. Es gibt zu kaum einem anderen Priester eine solch umfassende Untersuchung. Warum eigentlich nicht?
- Durch meinen Kontakt zu verschiedenen Betroffenen, die außerhalb meiner Pfarrei aufgewachsen sind, teile ich das Wissen um weitere schlimmste unsägliche Verbrechen an Kindern, die vor mehreren Jahrzehnten im damaligen Erzbistum Köln bzw. dem heutigen Bistum Essen stattgefunden haben.7 Diese Verbrechen sind nicht im juristischen Sinn bestätigt. Sie wurden allerdings von der UKA als plausibel bewertet und es sind sogenannte „Anerkennungszahlungen“ geleistet worden, die weit über den üblichen Zahlungen lagen. Die Abgründigkeit dieser Berichte liegt vor allem darin, dass diese Kinder von mehreren Priester missbraucht wurden. Über die Abgründigkeit der vorhandenen ritualisierten Gewalt und Folter und das Ausmaß dieser Verbrechen erfährt die Öffentlichkeit nichts. (Triggerwarnung) Sie tauchen weder anonymisiert in der MHG-Studie auf, noch werden sie in den jeweiligen Bistumsstudien angemessen erwähnt bzw. berücksichtigt. Insbesondere diese Berichte verdeutlichen, dass Priester und Schwestern sich an sadistischen und menschenverachtenden Praktiken beteiligt haben. Liturgische Riten und selbst der Altar als Tatort für Vergewaltigungen und Folter von Kindern werden von Betroffenen, die sich nicht kennen, unabhängig als Tatorte benannt. Mitunter erkennt man in Beschreibungen der Betroffenen liturgisches Insiderwissen. Hier zeigt sich der Kern des Abgrunds. Die Täter:innen empfanden offensichtlich einen Lustgewinn dabei, Kinder gegen ihren Willen und unter unvorstellbaren Schmerzen gefügig zu machen. Der Lustgewinn an Machtausübung gegenüber Wehrlosen und Schutzbedürftigen offenbart eine Kultur der gravierenden Gottlosigkeit im Herzen der Kirche. Die Verweigerung höchster kirchlicher Verantwortungsträger, diesen Teil der eigenen Geschichte selbst offen anzugehen, führt das Versagen und die Kultur der Verantwortungslosigkeit und des Leugnens bis in die Gegenwart weiter. Das Bischöfliche Nichthandeln ist für mich persönlich die größte Belastung meines Lebens und meines Glaubens geworden. Sie handeln nicht, weil sie meinen, die Kirche dadurch zu schützen. Sie schützen aber nicht die Kirche Jesu, sondern das System der weithin unkontrollierten Machtausübung, das ihnen zur Verfügung steht und ihre eigene Machtposition sichert. Sie schützen nicht die Kirche, sondern ihre eigene Identitätskonstruktion. So schützen sie sich selbst und verraten die Betroffenen sexualisierter Gewalt 8 Siehe die Aussage der mittlerweile verstorbenen Rechtsanwältin Westphal bei der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Münchner Aufarbeitungsstudie: (Zum Ticker mit dem Zitat – ext. Link) Was Kirche sich abverlangen müsse, zeigt Westpfahl an einem Beispiel: „Als kleines Mädchen habe sie den Erstkommunion-Unterricht besucht. Bei der ersten Beichte sei ihr gesagt worden, sie solle ihr Gewissen erforschen, welche Sünden sie begangen hatten. In der Beichte dann habe sie die Sünden bekennen – und Reue versprechen müssen. Das sei die Voraussetzung für Vergebung gewesen.“ „Das müsse,“ sagt Westpfahl, „die Messlatte für das Verhalten der Kirche und besonders ihrer führenden Repräsentanten sein. Dann werde Vertuschung als das bekannt, was sie ist: Verrat an Grundbekenntnissen des Glaubens. Nur dann könne es womöglich zur Rückgewinnung von moralischer Autorität kommen. Alles andere wäre Verrat an den Grundlagen des Glaubens.“ und die Botschaft Jesu.
Fortsetzung folgt